Crowd control – Ein Messebesuch in 6 Schritten
Ein Essay von Nathalie Hartjes

Bewegung
Welch’ Freude, welche Aufregung, die Kunstmesse naht! Das Beste vom Besten, handverlesen und dargeboten zu unserem Vergnügen, unserem Luxus, nach unseren Bedürfnissen und Wünschen. Messestände in Reih und Glied, manche zum ersten Mal dabei, andere feiern die Etablierten. Prachtvoll zurechtgestutzte Galeristen, ein unendliches Angebot an raffinierten Brillenmonturen, gewagte farbenfrohe Outfits, vor dem pathetisch schwarzen Hintergrund der Eleganz. Die Begeisterung und die Hektik jener, die in die städtischen Ausstellungshallen rieseln. Voll Erwartung bahnt sich die Meute ihren Weg hinunter zum zentralen Punkt, strömt durch die kleineren Gänge, ballt sich bei diesem oder jenen Stand und schiebt sich Richtung Zentrum um die Höhepunkte zu diskutieren; weiter und weiter, die Menge bleibt im Fluss. Sie kommen um zu sehen, zu schnuppern, um die Kunst einzuatmen, und um sich — hoffentlich — letztendlich zu verlieben. Sie sind auf der Suche nach einem reizenden Genrebild, nach einem Objekt mit der speziellen Gabe, Gefühle auszudrücken, die nicht in Worte fassbar sind, dieses eine außerordentliche Werk, das die Lücke in ihrer Sammlung schließt.

Das Übliche
Neben all ihren Vergnügen, birgt die Ausstellungshalle enorme Herausforderungen. Nicht weniger als hundert Galerien begeben sich in einen harten Wettkampf. Als Individuum in der Masse muss man seine Schritte sorgfältig setzen, ein effektiver Besuch verlangt nach Disziplin und Struktur. Sich von einem Stand zum anderen bewegend, muss man die Fähigkeit besitzen, schnell zu beurteilen, das Potential eines Werkes mit scharfem Blick zu erfassen; nur bemühen, wenn Interesse, Intrige und Preis im Einklang sind. Sie können über andere Bedeutungsebenen sinnieren, wenn das Objekt gefällig auf Ihrem Kaminsims platziert ist. Wenn Sie genug Fläche abdecken wollen, bevor der Tag vorbei ist, vertrödeln Sie nicht zu viel Zeit mit vagen Bekanntschaften, seien Sie höflich, lauschen Sie ihren Expertisen und beschleunigen Sie dann. Warum nicht warten mit dem Smalltalk bis Sie das Meisterwerk erworben haben, das ihren Neid anheizt? Die Menge fährt fort, hakt systematisch alle Stände von ihrer Liste ab, quält sich vorbei an Gerüsten, Sockeln und Plakaten, mit gelegentlichem Nicken und Händeschütteln. Einer Ameisenkolonie gleich erobern die Kunstliebhaber die Ausstellungshallen, intuitiv herumstreunend, um den großen Fund zu machen und in nach Hause zu holen.

Hindernis
Aber während diese zähen Arbeiter ihren Pfaden folgen, stoßen sie vielleicht auf das Unerwartete. Ein Messestand inmitten vieler scheint blockiert, zur Gänze eingenommen von einem monumentalen Gebilde; eine zylindrischen Kammer, eine gewaltige Drehtür, oder doch hermetisch ausgeschlossen. Ein wahrer Anhänger lässt sich natürlich nicht abschrecken von dieser scheinbaren Hürde. Ein kurzer Blick in dieses seltsame Unikum ist verführerisch, wer weiß, welch’ Mirakel sich darin finden? Wenngleich das Gebilde den Zugang noch ermöglicht, einmal im Inneren, bleibt der Stand leer. Vielleicht überkommt den enthusiastischen Besucher eine leichte Welle der Enttäuschung und versucht er rasch wieder den Messeflur anzusteuern, es gibt ja noch so viel zu sehen! Doch als er sich anschickt das Gebilde zu verlassen, wird im deutlich, dass es nicht immer einfach ist. Der Zylinder hat sich gedreht und hat ihn eingeschlossen, die Drehtür bewegt sich scheinbar rückwärts statt vorwärts und er ist gefangen zwischen Türen in einem Labyrinth von schmalen Korridoren.

Aktivierung
Künstler Jasper Niens (Zwolle, 1980) schafft architektonische Interventionen, oftmals im Kontext von Massenveranstaltungen, wie Kunstmessen und Festivals. Er versucht mit seinem Werk den fließenden Verlauf des Besuches zu unterbrechen und den Besucher unbewusst zu fangen. Um das Gebilde zu betreten, ist es oft nötig um manuelle Arbeit zu verrichten, schwere Wände verlangen nach einem ordentlichen Schub, oder lange vertikale Fugen erlauben eine Drehung von zylindrischen Konstruktionen. Die Bauten bieten nur wenig Bewegungsraum, sie begrenzen sofort die Linien unserer Bewegungen, geben sichtbar die Bahnen wieder, auf denen wir für gewöhnlich unbewusst wandeln, durch Architektur festgelegt. Niens Gebilde bieten in gewisser Hinsicht einen Blick auf Bewegung aus der Vogelperspektive, wie man sie kennt von alten Tanzinstruktionen oder Sportanalysen.

Konfrontation
Die handbewegten Bauwerke bewirken Interaktion zwischen den Besuchern, die von einander abhängig werden in ihrer räumlichen Bewegung. Manchmal aus Not – wenn das Konstrukt zu schwer ist um es alleine zu bewegen – oder durch die Anwesenheit einer anderen Person, die eine beabsichtigte Bewegung blockiert. Ein Machtspiel! Sind die Gäste aufmerksam und kooperativ oder wird ein Einzelner auf seinen Weg bestehen, sein Revier abstecken? Sobald sich die Wand bewegt, schlägt der Überraschungsmoment zu. Niens gestaltet das Bewegungsprinzip des Objekts bewusst transparent und so braucht es nicht langer, um dahinter zu kommen, wie es „funktioniert“. Aber in dem kurzen Augenblick der Verwirrung, schafft es Niens, den gewohnten Fluss zu unterbrechen und zwingt den Besucher zu antworten und zu agieren. Es ist, als ob plötzlich ein Zug auf freier Strecke hält und Sie aus Ihrem Gedanken reißt und Sie blicken neugierig um sich, ob irgendjemand begreift, was hier um Himmels Willen passiert. Niens sucht die direkte Konfrontation mit seinem Publikum. Eine Konfrontation die direkter ist als die Suche nach Ideen, die tief im Werk verborgen liegen. Er platziert ein Hürde, die uns miteinander konfrontiert und letztendlich mit uns selbst. Wo ist mein Platz in der Hektik der Messe? Alleine bleiben, oder besser Anschluss suchen?

Der Moment
Dank ihrer präzisen formalen und technischen Ausführung könnten die Werke leicht für nur ein schönes Stück zeitgenössische Skulptur gehalten werden. Das echte Werk jedoch liegt in der sozialen Handlung, die das Objekt anregt. Niens: “Das Publikum ist mein Material. Ich lege nur die Bedingungen fest, die es wählt, um darin zu agieren.“ Durch die Erschaffung einer Situation, in der Bewegung behindert wird, manchmal am Rande zum Absurden, betont Niens, wie Architektur unsere Umgebung begrenzt und die Art, wie wir uns darin fortbewegen. Unser tägliches Leben ist darauf angelegt, um den Fluss zu verbessern, natürliche Bewegung in artifiziellen Räumen zu kreieren, wie durch eine unsichtbare Hand vorangetrieben. In diesen Momenten der Unterbrechung muss das Publikum seine Bewegungen neu aushandeln. Durch den Einsatz dieser Strategien im Rahmen von Massenveranstaltungen unterstreicht Niens die Spannung zwischen Masse und Individuen, aus welchen sich die Masse zusammensetzt. Der Künstler erinnert uns daran, dass „wir alle in einem Boot sitzen“ und bricht durch die Anonymität des Spektakels. Das Werk jedoch ist flüchtig, wie die Messe. Es begrenzt sich durch sein Material: die Menschen in seinem Inneren. Jene, die antworten, drücken, zerren, finden sich im Zentrum der Struktur und verhandeln über Bewegungen, die sie selbst und das Objekt ausführen können.
Wenn sich die Messe also dem Ende zuneigt und die Besucher sich zurückziehen, bleibt der Geist des Kunstwerks übrig. Ein kraftvoller Geist, mit dem Potential, gesellschaftliche Beziehungen zu knüpfen in jenem Augenblick, in dem er wieder in Bewegung gesetzt wird.

Nathalie Hartjes (1981) hat einen MA Kunstgeschichte und ist Koordinatorin des Comité van Roosendaal, einem Netzwerk von 12 Einrichtungen zu zeitgenössischer Kunst in den Benelux-Staaten und Nordrhein-Westfalen, das eine Plattform für kulturelle und politische Themen bietet. Von 2006 bis 2008 war sie als Kommunikationsmitarbeiterin und Assistentin von Nicolaus Schafhausen bei Witte de With (Rotterdam) tätig. Hartjes ist seit 2005 freischaffende Kritikerin und Autorin und publizierte u. a. in Tubelight magazine, Kunstbeeld, Beton Brut (Magazin Kunstverein Düsseldorf), Pataphor (Publikation des Künstlers Hidde van Schie) und dem Newsletter des Kunsthuis SYB (Beetsterzwaag).
Deutsche Übersetzung: Doris Ebner